Es war einmal. . .
Soviel sei vorweg gesagt:
Ich musste mich entscheiden ob ich eine Horrorgeschichte oder ein Märchen
schreibe – ich habe mich für das Märchen entschieden.
Also, es war einmal ein Zauberer, der wohnte in einem prächtigen Palast.
Überall glänzte das Gold. Auch von den Dächern und Türmen. Innen waren 700 Zimmer, die alle mit prächtigen Kristalllustern,
geschliffenen Spiegeln, mit Seide tapezierten Möbeln und wertvollen
Ziergegenständen ausgestattet waren. Die großen Säle waren hintereinander
angeordnet und durch große Flügeltüren miteinander verbunden. Waren die Türen geöffnet,
so erschien die Zimmerflucht doppelt so lang. Es war eben ein herrlicher Palast
und alle Gäste waren immer sehr beeindruckt von diesem Prunk.
Der Palast lag etwas erhöht in einer Stadt, deren Bewohner schon viel Elend
erlebt hatten. Aber seitdem der große Zauberer regierte, ging es den Leuten etwas besser. Sie hatten Arbeit und kamen zu solidem Wohlstand. Einige von ihnen wurden
sogar Millionäre und konnten sich Jachten, Häuser im Ausland und ein Leben in
Prunk leisten. Das gefiel dem Zauberer und er umgab sich gerne mit diesen
Leuten. Allerdings hatte der Wohlstand seinen Preis: Man durfte nur sagen und
schreiben, was dem Zauberer gefiel. War das nicht der Fall, war das gefährlich
und konnte einem das Leben kosten.
Dem Zauberer aber, war das egal. Hauptsache er hatte alles unter Kontrolle.
Er bewohnte im Palast mehrere Zimmer. Einer dieser Räume war besonders. Dort
hing nämlich ein venezianischer Zauberspiegel, den man befragen konnte und der
immer mit der Wahrheit antwortete.
Jeden Tag stellte sich der Zauberer vor seinen Spiegel und fragte:
„Spiegel, Spiegel sage mir –
wer auf diesem Kontinent, ist der mächtigste Regent?“
Und der Spiegel antwortete:
„Ihr Herr Zauberer das ist doch klar, ihr seid der Mächtigste für wahr!“
Erst wenn er das hörte, war der Zauberer zufrieden und konnte gut einschlafen.
So ging das mehrere Jahre, denn das Reich war von unvorstellbarer Größe. Es
reichte von der Ostsee im Westen quer gegen Osten nach Asien bis zur Beringsee.
Viele kleinere und größere Ländereien mit unterschiedlichen Kulturen wurden zu
diesem Reich vereint und teilweise mit eiserner Hand zusammengehalten. Es war
auch nicht leicht aus diesem Reich zu entkommen, ein „eiserner Vorhang“
verhinderte dies.
Als der Zauberer noch ein Bub war, regierte sein mächtiger Onkel, der ihm
versprach, er werde einmal dieses mächtige Reich erben und dürfe dann darüber regieren.
Der Knabe wuchs heran, träumte von Ruhm, Macht und Wohlstand und freute
sich auf seine kommenden Aufgaben. Er dachte bei sich, „ich muss trainieren,
damit ich stark werde und die Leute mich bewundern und zu mir aufsehen“. Er bewährte
sich in verschiedenen Kampfsportarten und errang bereits mit ca. 18 Jahren den
schwarzen Gürtel im Judo.
Außerdem war er schlau! Damit er über alles Bescheid wusste, reiste er in
andere Länder und spionierte dort für seinen Onkel. So erreichte das Vertrauen und die Anerkennung von ihm. Zur Belohnung wurde er in die Zauberkünste des Regierens und des Herrschens eingeweiht. Er erhielt
immer mächtigere Ämter, bis er der Stellvertreter seines Onkels war.
Die Jahre vergingen . . . Mit der Zeit wurde sein Onkel immer älter und schwächer und es wurde an der Zeit,
das Reich an den jungen Zauberer zu übergeben. Ab nun regierte der junge
Zauberer, der inzwischen zu einem stattlichen Mann herangewachsen war, das
mächtige Reich. Und der Zauberspiegel bestätigte ihm nun jeden Abend vor dem zu
Bett gehen, dass er weit und breit der mächtigste Herrscher sei.
Aber dann geschah etwas Unerwartetes:
Das große Reich begann zu zerbrechen. Vor allem jene Gebiete, die bisher am
Rande des Reiches angeordnet waren, sagten sich los und gründeten einen eigenen
Staat. Die einzelnen Völker genossen die neue Freiheit. Die Leute wurden
fröhlich und die Länder blühten auf.
Von dem ursprünglichen Riesenreich blieben zwar immerhin noch zwei Drittel der
Größe übrig, aber der Zauberer empfand es als Tragödie
von gewaltigem Ausmaß und die größte geopolitische Katastrophe des 20.
Jahrhunderts.
Von nun an antwortete der Zauberspiegel:
„Herr Zauberer, euer Reich ist noch immer wunderbar
– und ihr seid der mächtigste Herrscher hier!
Aber im Westen und im Osten, gibt es mächtigere Herrscher
als ihr!“
Das
machte den Zauberer sehr wütend. Lange ging er in seinen Gemächern auf und ab
und grübelte, wie er es anstellen könnte, sein Reich und damit seine Macht
wieder zu vergrößern. Schließlich rief er seine Generäle zu sich und befahl
ihnen, eine der schönsten Halbinseln wieder zurück zu erobern.
Überfallsartig
annektierte er dieses Gebiet. Hackerangriffe und Cyberkrieg mit einer
Troll-Armee folgten. Und weil dies so gut gelang, befahl er, auch die
restlichen abtrünnigen Länder zurück zu erobern. Ein schrecklicher Krieg
begann. In seiner Wut befahl der Zauberer keine Rücksicht auf die Menschen zu
nehmen und alles dem Erdboden gleich zu machen.
Aber
die Völker der neuen Staaten wollten ihre Freiheit nicht mehr hergeben. Sie
wollten frei und unabhängig sein und nicht mehr unter der drückenden und
strengen Herrschaft des Zauberers stehen. Sie leisteten erbitterten und tapferen
Widerstand. Viele Frauen flohen mit ihren Kindern in die Nachbarstaaten. Die
Männer blieben zurück und verteidigten ihr Land so gut es eben ging. Sie wussten
nicht ob sie sich jemals wiedersehen werden.
Das
war sehr traurig, denn viele Familien wurden dadurch getrennt.
Aber
alle halfen zusammen. Die, die zurückblieben und auch die anderen Länder
Europas und Amerika, halfen so gut es ging. Sie spendeten Hilfsgüter, nahmen
die Flüchtlinge auf und versorgten sie.
Die Liebe und die Hilfsbereitschaft gedeihen auch unter
schrecklichen Umständen!
Und
dementsprechend antwortete auch der Zauberspiegel seinem Herrn, wenn er befragt
wurde:
„Sag Spiegel, bin ich wieder der Mächtigste hier?“
Der Spiegel aber antwortete:
„Ihr
Herr Zauberer seid zwar der Mächtigste hier -
Aber die Liebe dort, ist noch viel größer als ihr!"
Dass
die Liebe, die Hilfsbereitschaft und Verbundenheit der Leute dort, wo er die
Bomben und Soldaten hin sandte, seine Macht und Gewalt zerstörte, das konnte er
nicht ertragen.
Wütend
schlug er mit der Faust gegen den Zauberspiegel. Der Spiegel zerbarst in viele
Teile, die explosionsartig in alle Richtungen flogen. Ein Splitter traf auch den
Oberkörper des Zauberers und bohrte sich in sein Herz. Getroffen sank er zu
Boden und verblutete.
Niemand
kam ihm zu Hilfe. Alle waren froh, dass der Krieg zu Ende war. Die Frauen kamen
mit ihren Kindern wieder zurück, Familien wurden wieder vereint.
Nun
konnte der Wiederaufbau beginnen. Aber wie der Spiegel sagte, die Liebe der
Menschen zu ihrer Heimat und die gegenseitige Hilfsbereitschaft halfen auch
beim Wiederaufbau mit und alle lebten wieder glücklich und zufrieden.
P.S.: Dieses Märchen ist frei erfunden, Ähnlichkeien mit lebenden Personen sind rein zufällig!
Das Titelfoto ist das Deckblatt der Puschkin-Märchen,
Verlag Eherner Reiter,St. Petersburg 2014