Dienstag, 1. November 2022

 
Was bleibt?
 

Ich wohne nun seit fünfzig Jahren in dieser Wohnhausanlage. Vieles ist vertraut und man hat fast das Gefühl, dass einige Mieter, die seinerzeit mit uns 1971 einzogen, genauso wie die Ziegel und das Dach, zum festen Inventar der Anlage gehören. Wenn ich zum Billa, gleich ums Eck, gehe, sehe ich immer wieder Leute, deren Namen ich zwar nicht kenne, aber genau weiß, wo sie wohnen. Nämlich, gegenüber im 5. Stock, die Wohnung mit der großen Bücherwand. Oder die mit dem hübschen Balkon, wo jedes Jahr die Blumenkästen hübsch geschmückt werden! 

Und so ist das auch mit dem Weihnachtsschmuck! Früher sah man viele Lichterbögen in den Fenstern. Eine Wohnung hatte sogar einen ziemlich großen, roten, runden Bogen! In einer anderen Wohnung war eine Lichterpyramide nicht auf dem Fensterbrett, sondern hing vom oberen Fensterrand herunter! Schon seit einigen Jahren gibt es grell blinkende Lichtergirlanden, die viele Lichterbögen ablösten. Eine Dame auf Stiege 15, hatte jedes Jahr schon Anfang Dezember, auf dem Balkon eine große beleuchtete Tanne stehen, die den Christbaum im Wohnzimmer ersetzte.

Irgendwie wartet man dann schon Ende November/Anfang Dezember darauf, wann und wo die erste Weihnachtsbeleuchtung auftaucht. Wenn sich dann aber etwas verändert, wie zum Beispiel die blinkende Lichterorgel statt dem heimeligen Lichterbogen, oder der Tannenbaum steht nicht mehr auf dem Balkon - dann fragt man sich, was ist geschehen? 

So erging es mir auch gestern. Es gab da nämlich ein Ehepaar, die hatten eine Wohnung mit Loggia im Erdgeschoß auf Stiege 6. Immer wenn ich unseren Müll ausleerte, ging ich an dieser Loggia vorbei. Man sah sofort, dass dies eine sehr gepflegte Wohnung war. Die Loggia war verglast und mit einem Regensims versehen. Hinter der Verglasung waren Vorhänge und an den Wänden standen Regale. Aber das Besondere an dieser, nun zur Veranda gewordenen Loggia war das Weihnachtsdorf in der Vorweihnachtszeit. Da wurde eine Winterlandschaft aufgebaut mit Häusern und einer Kirche aus Keramik. Dazwischen Bäume, Figuren und Laternen, die am Abend, wenn es finster wurde, das Weihnachtsdorf erhellte. Die ganze Anlage war schräg angeordnet, sodass sie auch von außen gut gesehen werden konnte. Der Besitzer gehörte wohl zu jener Sorte von Erwachsenen, die sich ein Stück Kindheit bewahrten! Das gefiel mir!

Ich gehöre ja zur gleichen Sorte Menschen und so wartete ich jedes Jahr gespannt, wann Ende November das beleuchtete Weihnachtsdorf erschien und erfreute mich an dessen Anblick. 

Zwei Jahre Pandemie ist eine Zeitspanne in der man lernte zurückgezogen zu leben und der heurige heiße Sommer taten das Übrige. Die meisten Tage verbrachten wir in unserem Garten. Erst seit Oktober sind wir wieder in der Stadt. Und so verlor ich die regelmäßigen Rituale an den Fenstern und Balkonen unserer Mitbewohner total aus den Augen.

Heute ging ich wieder den Müll ausleeren.

Die Verglasung jener Loggia war weit aufgeschoben. Ein Mann reichte Kastentüre und Brett für Brett heraus und ein anderer Mann nahm alles entgegen. Am nicht weit entfernten Gehsteig waren schon viele Möbelteile aufgestapelt und warteten auf die Verladung auf den bereitgestellten Lastwagen. Offensichtlich wurde diese Wohnung geräumt und ich fragte mich „Was ist geschehen? Wo sind die Mieter hingekommen? Sind sie in ein Pensionistenheim gezogen oder womöglich verstorben?“

Und was bleibt übrig von einem Leben in einer liebevoll eingerichteten Wohnung? Was bleibt übrig vom Leben? . . . . .

Aber wie heißt es doch?

In der Erinnerung lebt man weiter! Und so werden auch jene Mieter, die ich zwar persönlich nicht kannte, in meiner vorweihnachtlichen Erinnerung trotzdem weiterleben und ich werde erzählen von einer Loggia, die sich jedes Jahr zur Vorweihnachtszeit in ein Weihnachtsdorf verwandelte. . .

 

Foto von Otto-Versand